Inhalt
Sind Transgenders geisteskrank?
Die Kampagne "Stop Trans Pathologization 2012"
Hauptforderungen der Kampagne
Das Manifest der Kampagne
Spanien: Best Practice Guide to Trans Health Care
Österreich: Argumentation zur Kassenfinanzierung
(1) Anspruch auf Krankenbehandlung nach § 133 ASVG
(2) Behandlung nach einer Personenstandsänderung
(3) Verschieben der Diagnosen in den somatischen Bereich
Depathologisierung
Der folgende Text geht auf ein Manuskript des Referats von Jo Schedlbauer "Stop Trans Pathologization 2012" beim TransX Abend im Dezember 2010 zurück, das im Rahmen einer Ausbildung zu einer 34-seitigen Abschlusßarbeit erweitert wurde. Diese Arbeit kann hier heruntergeladen werden. Im Folgenden geben wir eine gekürzte Fassung wieder.
Jo Schedlbauer
Stop Trans Pathologization, 2011
Sind Transgenders geisteskrank?
Menschen, deren geschlechtliche Identität nicht mit jenem Geschlecht übereinstimmt, das nach der Geburt durch die Hebamme zugewiesen wurde, gelten heute als psychisch krank. Die "Transsexualität" findet sich im Diagnosekatalog ICD-10 im Kapitel über Persönlichkeitsstörungen. Auch der DSM IV kennt die Diagnose der "Gender Identity Disorder" – also Geschlechtsidentitätsstörung.
Ist "Transsexualität" wirklich eine psychische Krankheit oder ist ihr verordneter Krankheitscharakter nicht vielmehr ein subtiler Ausdruck der Trans* Diskriminierung?
Trans* Menschen empfinden sich nicht als psychisch krank. Sie wollen in ihrem Identitätsgeschlecht leben und anerkannt werden. Krank macht allenfalls der Zwang, in einem Geschlecht leben zu müssen, das nicht das eigene empfundene Geschlecht ist.
Die Einstufung der Transsexualität als psychische Krankheit ist problematisch, weil diese Diagnose dazu führt, dass auf Trans* Personen herabgeblickt wird. Menschen, deren Anblick nicht in das gewohnte Schema von "Mann" und "Frau" passt erregen in der Öffentlichkeit Aufsehen und irritieren. Auch in Österreich kann das Bekenntnis zur eigenen, vom sozialen Umfeld als abweichend empfundenen Geschlechtsidentität mitunter noch immer Diffamierungen und Beschimpfungen als geistesgestört nach sich ziehen. Das ist ein altes Vorurteil, das sich hartnäckig hält und durch die Diagnosen psychischer Störungen gestützt wird.
Seit einigen Jahren wird aus der Trans* community die Forderung nach Depathologisierung laut. Sie wurde zunächst vor allem von außereuropäischen Trans* Gruppen formuliert und seit 2008, ausgehend von einer Spanischen Initiative, erfolgreich in Europa aufgegriffen.
Doch die Forderung nach Depathologisierung bleibt innerhalb der Trans* community nicht unwidersprochen. Befürchtungen werden laut, dass medizinische Behandlungen, wie etwa die Hormonbehandlung oder genitalanpassende Operationen, die bisher von den Krankenkassen finanziert werden, von den Betroffenen selbst finanziert werden müssen, sobald die Einstufung der Transsexualität als psychische Krankheit fällt.
Die Kampagne "Stop Trans Pathologization 2012"
Die Bewegungen zur Streichung der "Transsexualität" aus den Diagnosekatalogen gehen davon aus, dass die Einstufung als psychisch krank eine Stigmatisierung und Diskriminierung darstellt, transphoben Vorurteilen Vorschub leistet, und im schlimmsten Fall auch transphobe Hass Verbrechen motiviert.
2011 bestand das Netzwerk "Stop Trans Pathologization 2012" aus 294 Gruppen aus Afrika, Südamerika, Asien, Europa, Australien, Neuseeland, und Kanada sowie 9 internationale Netzwerke und 9 politische Parteien. Im Oktober 2011 demonstrierten Trans* Personen in 70 Städten weltweit für die Streichung der Diagnose Geschlechtsindentitätsstörung aus den internationalen Krankheitskatalogen.
Website der Kampagne "Stop Trans Pathologization 2012"
Hauptforderungen der Kampagne
Es wurden fünf Hauptforderungen für die internationale Kampagne formuliert. Um eine möglichst breite Bewegung zu erreichen wurde nur die erste Forderung als unbedingte gemeinsame Basis definiert, die von allen UnterstützerInnen mitgetragen werden muss. Die weiteren vier Forderungen sind ein Vorschlag des Organisationskommittees, der jedoch in der Praxis von allen beteiligten Organisationen mitgetragen wird. Es steht allen unterstützenden Gruppen frei, diese vier Forderungen abzuwandeln oder auch darüber hinaus eigene Forderungen aufzustellen, die bei den lokalen Aktionen vertreten werden können.
- Haupt Forderung: Die Streichung der Geschlechtsidentitätsstörungen aus den internationalen Diagnostik Handbüchern (DSM-IV-TR und ICD-10).
- Die Abschaffung von Behandlungen binärer Normalisierung an intersexuellen Personen.
- Der freie Zugang zu Hormonbehandlung und Chirurgie (ohne psychiatrische Vormundschaft).
- Die öffentliche Kostendeckung geschlechtsangleichender Massnahmen.
- Die Prävention der Transphobie: Förderung der Erziehung und sozialer und beruflicher Einschluss der Trans* Personen, sowie die Visibilisierung und Anklage jeglicher Art institutioneller oder sozialer Transphobie.
Das Manifest der Kampagne
Das Netzwerk hat ein dreiseitiges Manifest beschlossen, in dem die Forderungen näher erläutert werden. Die "Psychiatrisierung" wird darin scharf kritisiert. Ein wesentlicher Argumentationsfaden des Papiers ist es auch, das Paradigma des binären Geschlechtermodells in Frage zu stellen:
"Die offizielle, von staatlichen, religiösen, ökonomischen und politischen Interessen motivierte Praktik dieser Institutionen arbeitet mit den Körpern der Personen, unter dem Schutzschild und in Reproduktion des Binoms Mann/Frau, indem sie diese ausschließende Position als eine natürliche und "wahrhaftige" Realität verkleidet. Das genannte Binom setzt die alleinige Existenz von zwei Körpern (Mann oder Frau) voraus und assoziiert ein spezifisches Verhalten (männlich und weiblich), wobei traditionell die Heterosexualität als einzige mögliche Beziehung zwischen beiden angesehen wurde. Indem wir jetzt dieses Paradigma anklagen, welches das Argument der Biologie und der Natur als Rechtfertigung der herrschenden sozialen Ordnung verwendet, stellen wir seine sozialen Effekte dar, um seinen politischen Ansprüchen ein Ende zu machen."
Manifest der Kampagne "Stop Trans Pathologization 2012"
Spanien: Best Practice Guide to Trans Health Care
Nach Diskussionen, die von der Depathologisierungsbewegung ausgegangen sind, gab die Spanische Regierung im März 2010 eine Stellungnahme ab, in der festgestellt wird: "Wir stimmen zu, dass die Transsexualität aus der Liste der Geisteskrankheiten herausgenommen werden muss."
Im Juni 2010 hat das Gesundheitsministerium eine Arbeitsgruppe installiert, um eine Richtlinie für die Behandlung Transsexueller im nationalen Gesundheitssystem zu verfassen.
Als Beitrag dafür haben die spanischen stp2012-Gruppen einen Vorschlag erarbeitet, in dem ein nicht-pathologisierendes System der Gesundheitsversorgung für Trans* Personen im Spanischen Gesundheitssystem entworfen wird. Das Papier entwirft ein flexibles und emanzipatorisches Behandlungsmodell, das als Alternative zu den Internationalen Standards of Care der WPATH konzipiert ist.
Österreich: Argumentation zur Kassenfinanzierung
Egal ob die österreichischen Trans* Gruppen die Kampagne zur Depathologisierung unterstützt oder nicht und egal welche Forderungen hierzulande aufgestellt werden: Die Streichung der Diagnosen zur Transsexualität bzw. Geschlechtsidentitätsstörung aus den internationalen Diagnosekatalogen ist in Diskussion und wird irgendwann auch kommen. Deshalb ist es wichtig, frühzeitig Argumentationslinien gegenüber den Krankenkassen zu entwickeln, um eine Sicherstellung der Finanzierung geschlechtsangleichender medizinischer Behandlungen zu gewährleisten.
Grundsätzlich ist festzustellen, dass sowohl im Zusammenhang mit der Personenstandsänerung als auch mit medizinischen Behandlungen zwar immer wieder der Begriff "Transsexualität" genannt wird, aber mit einer einzigen Ausnahme niemals auf die Diagnose F64.0 des ICD-10 Bezug genommen wird.
Der einzige Bezug findet sich in einem Kommentar zur Regierungsvorlage der Strafrechtsnovelle 2001 im Zusammenhang mit dem § 90 StGB. Hier wird festgestellt, dass eine Körperverletzung nicht rechtswidrig ist, wenn der Verletzte in sie einwilligt. In Absatz 3 wird jedoch eine Ausnahme formuliert: "In eine Verstümmelung oder sonstige Verletzung der Genitalien, die geeignet ist, eine nachhaltige Beeinträchtigung des sexuellen Empfindens herbeizuführen, kann nicht eingewilligt werden."
Diese Ausnahme richtet sich gegen die Praxis der Genitalverstümmelung, könnte aber ebenso genitalanpassende Operationen an Trans* Personen betreffen. In der Regierungsvorlage wird dagegen festgestellt, dass die Transsexualität eine Persönlichkeitsstörung nach dem ICD-10 darstellt und genitalanpassende Operationen nach den Behandlungsempfehlungen des BMASG 1991 daher eine Heilbehandlung darstellen und somit nicht unter den § 90 Abs. 3 StGB fallen.
Diese Erwähnung der Diagnose des ICD-10 in einem Kommentar zu einer Regierungsvorlage ist aber nicht geeignet, im Falle der Streichung der Diagnose genitalanpassende Operationen als Körperverletzung strafbar zu machen und erst recht nicht dazu, eine Kostenübernahme der medizinischen Behandlung von Trans* Personen durch die Krankenkassen zu verhindern.
Dem gegenüber gibt es einige gute Argumentationsstränge, um die Finanzierung medizinischer Behandlungen auch ohne die Diagnose einer psychischen Krankheit sicherzustellen.
(1) Anspruch auf Krankenbehandlung nach § 133 ASVG
Grundlage für die Finanzierung medizinischer Behandlungen im Rahmen des Geschlechtswechsels, die in Österreich von den Krankenkassen finanziert werden, ist nicht die Diagnose F64.0 nach dem ICD 10 sondern ein Leidensdruck, der durch das Leben im falschen Geschlecht entsteht.
Dazu gibt es zwei OGH-Entscheidungen: 10 ObS 2303/96s, 12.09.1996, über die Kostenübernahme Psychotherapie und 3 Ob 570/95, 12.12.1995, über die Anrechenbarkeit von durch Transsexualität entstandenen Kosten für die Bemessung von Unterhaltszahlungen.
Die Richtsätze dieser beiden Entscheidungen nehmen Bezug auf ein Urteil des Bundessozialgerichts aus Deutschland vom 6.8.1987 (BSGE 63, 83):
"Transsexualität ist dann als eine Anspruch auf Krankenbehandlung gemäß § 133 ASVG auslösende Krankheit zu werten, wenn die innere Spannung zwischen dem körperlichen Geschlecht und der seelischen Identifizierung mit dem anderen Geschlecht eine derartige Ausprägung erfahren hat, daß nur durch die Beseitigung dieser Spannung schwere Symptome psychischer Krankheiten behoben oder gelindert werden."
Dieser Richtsatz sagt nichts anderes aus, als die von Trans* Gruppen vertretene Meinung, dass nicht die "Transsexualität" an sich als Krankheit zu werten ist sondern dass schwere psychische Krankheiten ausgelöst werden können, wenn die empfundene Geschlechtsidentität nicht gelebt werden kann.
Der § 133 ASVG besagt:
- Die Krankenbehandlung umfaßt: 1. ärztliche Hilfe; 2. Heilmittel; 3. Heilbehelfe.
- Die Krankenbehandlung muß ausreichend und zweckmäßig sein, sie darf jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten. Durch die Krankenbehandlung sollen die Gesundheit, die Arbeitsfähigkeit und die Fähigkeit, für die lebenswichtigen persönlichen Bedürfnisse zu sorgen, nach Möglichkeit wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. (...)
- Kosmetische Behandlungen gelten als Krankenbehandlung, wenn sie zur Beseitigung anatomischer oder funktioneller Krankheitszustände dienen. Andere kosmetische Behandlungen können als freiwillige Leistungen gewährt werden, wenn sie der vollen Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit förderlich oder aus Berufsgründen notwendig sind. (...)
Durch die Krankenbehandlung soll also die Gesundheit und die Arbeitsfähigkeit etc. wiederhergestellt, gefestigt oder gebessert werden. Wäre die "Transsexualität", also das Empfinden einer eigenen, vom zugewiesenen Geschlecht abweichenden Geschlechtidentität, die Krankheit, so könnte sie dadurch geheilt werden, dass ein als abweichend definiertes Geschlechtsempfinden wegtherapiert und eine Anpassung an die herrschende, durch körperliche Merkmale definierte, Geschlechternorm erreicht wird. Diese Versuche hat es zur Genüge gegeben und sie sind allesamt gescheitert. Inzwischen sind sich die Experten einig, dass das Empfinden der eigenen Geschlechtsidentität nicht wegtherapiert werden kann.
Demgegenüber können die innere Spannung und die damit einhergehenden Krankheitssymptome erfolgreich geheilt und ein zufriedenstellendes Leben erreicht werden, wenn dem Wunsch nach medizinischen Behandlungen zur Anpassung des Körpers an das Identitätsgeschlecht, etwa durch Hormonbehandlung oder Operationen, entsprochen wird.
(2) Behandlung nach einer Personenstandsänderung
Nachdem schwerwiegende operative Eingriffe in Österreich seit 2009 nicht mehr als Voraussetzung für Personenstandsänderungen herangezogen werden dürfen ergibt sich eine neue Argumentationslinie, wie die medizinische Behandlung von Trans* Menschen ohne die stigmatisierende Diagnose einer psychischen Störung verrechnet werden kann: Als körperlicher Eingriff, so wie für alle anderen Frauen und Männer auch.
Kosmetische Behandlungen sind jedenfalls durch die Krankenkassen zu finanzieren, wenn sie der Wiederherstellung anatomischer oder funktioneller körperlicher Zustände dienen. Nach dem § 120 ASVG gilt ein Versicherungsfall als eingetreten "1. im Versicherungsfall der Krankheit mit dem Beginn der Krankheit, das ist des regelwidrigen Körper- oder Geisteszustandes, der die Krankenbehandlung notwendig macht."
Wer rechtlich ein Mann ist aber unter Gynäkomastie, also der Ausbildung einer weiblichen Brust, leidet, wird kaum Probleme haben, eine Brustverkleinerung von der Krankenkasse finanziert zu bekommen. Wer rechtlich ein Mann ist und keinen Penis vorweisen kann wird kaum Probleme haben, einen Penoidaufbau finanziert zu bekommen. Während des ersten und zweiten Weltkriegs machte die plastische Chirurgie grosse Entwicklungssprünge – auch bei der Entwicklung von Techniken um einen fehlenden Penis zu rekonstruieren.
Wer rechtlich eine Frau ist und darunter leidet, dass die Schamlippen zusammengewachsen und die Vagina verkümmert ist, wird keine Probleme haben, eine Operation zur Öffnung der Schamlippen und Bildung eine Neovagina von der Krankenkassa finanziert zu bekommen.
Hormonbehandlungen, die eine übermässige Konzentration gegengeschlechtlicher Hormone ausgleichen sollen oder Substitutionstherapien bei Hormonmangel, sind an der Tagesordnung und werden selbstverständlich von den Krankenkassen finanziert.
Viele Transfrauen leiden unter Glatzenbildung. Dies bedeutet ein gravierendes Stigma, und wirkt sich sowohl auf den eigenen Selbstwert als auch auf die Anerkennung als Frau durch das soziale Umfeld negativ aus. Die Folge sind häufig schwere Depressionen und weitgeheneder sozialer Rückzug. Eine Abhilfe könnten Perücken schaffen. Vor einer Personenstandsänderung werden die Kosten nicht von den Krankenkassen übernommen. Bei Männern wird die Glatzenbildung als normal betrachtet und für die Verrechnung zählt das im Geburtenbuch eingetragene Geschlecht. Erst nach einer juristischen Anerkennung als Frau sind die Kassen neuerdings bereit, die Finanzierung von Perücken zu übernehmen.
Die Bindung der Kostenpübernahme an das juristische Geschlecht ist allerdings auch zu hinterfragen. Sie führt etwa dazu, dass Transfrauen Schwierigkeiten haben, Untersuchungen der Prostata bezahlt zu bekommen, weil das Vorhandensein dieses Organs bei weiblichem Personenstand nicht vorgesehen ist.
(3) Verschieben der Diagnosen in den somatischen Bereich
Eine weitere Möglichkeit wäre es, die Transsexualität aus dem Bereich der psychischen Krankheiten herauszunehmen und in den Bereich der somatischen Erkrankungen zu verschieben.
Eignen würden sich etwa die Bereiche "Angeborene Fehlbildungen, Deformitäten und Chromosomenanomalien" (Q00-Q99) oder "Faktoren, die den Gesundheitszustand beeinflussen und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führen" (Z00-Z99) des ICD-10.
Dazu gibt es ein Beispiel aus Frankreich. Dort ergriff das Gesundheitsministerium im Februar 2010 die Initiative, die Geschlechtsidentitätsstörung aus dem Sektor der psychiatrischen Erkrankungen (ALD-23) herauszunehmen und in den Sektor für "Krankheiten unbekannten Ursprungs" (ALD-31) zu verschieben.64 Auch die spanischen stp2012-Initiativen machen einen ähnlichen Vorschlag.
Damit wäre die Pathologisierung zwar nicht überwunden aber die Diagnose einer somatischen Erkrankung ist jedenfalls wesentlich weniger stigmatisierend als die einer Persönlichkeitsstörung.